17. Juli 2023

Die bewusste Strategiewahl bei Start-ups

Der Markteintritt hat für jedes junge Start-up höchste Priorität. Denn direktes Kundenfeedback erhält es nur, sobald das Produkt am Markt ist. Dennoch sollten Gründer nicht mit der erstbesten Strategie eintreten, sondern bewusst zwischen möglichen Alternativen wählen.

von Radu-Andrei Maldea

Foto von Claire Thibault auf pexels.com

 

Nichts scheint für ein junges, aufstrebendes Start-up aufregender zu sein als der Markteintritt. Und das zu Recht! Erste Umsätze können erzielt werden, das Feedback der definierten Zielgruppe materialisiert sich und die Marktdynamiken werden durch Wettbewerber spürbar.

Viel zu häufig wird jedoch die erste plausible Strategie für diesen Markteintritt gewählt. Wieso auch nicht? Sie scheint ausreichende langfristige Entwicklung zu prognostizieren. Sie ist außerdem bereits da und kann in die Tat umgesetzt werden, ohne weitere Zeit zu verlieren. Ungeachtet bleibt oft die Vielzahl von Strategiealternativen, welche für die Entwicklung des Start-ups vorteilhafter sein können. Und oftmals wird der First-mover von später eintretenden Wettbewerbern mit besseren Strategien überholt.

Aus diesem Grund ist es wichtig, dass Start-ups bei der Wahl der strategischen Positionierung gegen-über Wettbewerbern und strategischen Partnern die Alternativen erhöhen, aus denen sie schöpfen können. Gleichzeitig darf sich der Markteintritt nicht verzögern.

Um das zu erreichen, stellen wir im Folgenden zwei allgemeingültige Modelle vor, die grundlegende Strategiealternativen für jedes Start-up darstellen. Damit besitzen Start-ups zu Beginn von Strategiediskussionen bereits einen Wahlzettel, der die Wahrscheinlichkeit erhöht, die bestmögliche – und nicht länger die erstbeste – Strategie für die Zukunft zu wählen, ohne dabei das vorhandene Momentum zu verlieren.

Die beiden Modelle sind der „Entrepreneurial Strategy Compass“ von Joshua Gans, Erin L. Scott und Scott Stern und die „Generic Strategies“ von Michael E. Porter.

Der „Entrepreneurial Strategy Compass“

Der von den drei Harvard Business School-Professoren entwickelte Kompass definiert die Einstellung des Start-ups gegenüber den etablierten Unternehmen im Markt und gegenüber der eigenen Technologieentwicklung.

Das Start-up kann mit den etablierten Unternehmen kooperieren oder im direkten Wettbewerb stehen. Die Kooperation mit etablierten Unternehmen mag dem Start-up den Zugang zu Ressourcen, Kunden oder Lieferketten ermöglichen. Sie kann aber auch das Wachstum des Start-ups durch die Bürokratie in etablierten Unternehmen verlangsamen oder den für Start-ups wichtigen Kundenkontakt minimieren. Auf der anderen Seite kann der direkte Wettbewerb den nötigen Freiraum bieten, gleichzeitig aber die Gefahr bergen, gegen finanziell stärkere Wettbewerber ins Hintertreffen zu geraten.

Zusätzlich kann das Start-up die inhouse entwickelten Innovationen kontrollieren und lizenzieren oder verkaufen. Die entwickelte Technologie zu schützen kann langfristig die entdeckte Marktnische gegen den Wettbewerb verteidigen, erhöht jedoch die Entwicklungs- und Transaktionskosten. Macht das Start-up Innovationen für den Markt zugänglich, kann die Produktentwicklung schneller voranschreiten. Allerdings werden Schlüsselprozesse an Kunden und strategische Partner weitergegeben, was die eigene Position in der Wertschöpfungskette der Industrie zum Wackeln bringen könnte.

Aus der grafischen Zusammenstellung der Dimensionen ergeben sich vier Strategien:

Die erste Strategie ist die des geistigen Eigentums.

Dabei kooperiert das Start-up mit etablierten Unternehmen und behält die Kontrolle über die eigenen Innovationen. Das Start-up agiert als Think Tank und fokussiert sich auf F&E und die Produktweiterentwicklung, während die Kunden oder strategischen Partner alle Kommunikations- und Verkaufs-aktivitäten zu den Endkunden übernehmen. Die Technologie des Start-ups muss allerdings nicht die Wertschöpfungskette des Kunden oder des strategischen Partners verbessern, sondern vielmehr eine Ergänzung der Produkte für die Endkunden sein. Es ist dabei vorteilhaft, modulare und für viele Kunden wichtige Produkte zu entwickeln, um eine große Kundenbasis zu bedienen.

Um die Strategie erfolgreich zu gestalten, muss großen Wert auf das Schützen der eigenen Technologien durch Patente und Markenrechte gelegt werden.

Die zweite Strategie ist die der Wertschöpfungskette.

Das Start-up investiert dabei nachhaltig in die Produkt- und Technologieentwicklung, vertreibt diese jedoch an Kunden und strategische Partner. Primäres Ziel dabei ist es, die Wertschöpfungskette des Kunden oder Partners und damit seine Marktposition auszubauen. Das kann von Produktionseffizienzen durch genauere Messungen bis hin zum besseren Kundenservice durch Chatbots so gut wie alles sein. Idealerweise fokussiert sich das Start-up gezielt auf eine Schicht in der Wertschöpfungskette, für welche es der unangefochtene Marktführer ist. Die Zusammenarbeit mit den Kunden oder strategischen Partnern ist in keiner der drei anderen Strategien so wichtig und erfordert vom Gründerteam so großen Koordinationsaufwand wie hier.

Die dritte Strategie ist die der Architektur.

Start-ups, die diese oder die Disruption-Strategie verfolgen, sind durch den direkten Kundenkontakt und den Wettbewerb zu etablierten Unternehmen in der Öffentlichkeit viel bekannter als Start-ups, welche die ersten beiden Strategien verfolgen. Zumeist sind es eher B2C Unternehmen; dagegen wählen B2B Unternehmen eher die ersten beiden Strategien.

Die Architektur-Strategie hat zum Ziel, dass das Start-up eine neue Wertschöpfungskette kreiert und sie ganzheitlich kontrolliert. Dabei muss das Produkt umfänglich genug sein, um dieses Ziel zu erreichen. Aus diesem Grund besitzen die meisten Start-ups, welche diese Strategie verfolgen, eine Plattform als Produkt und verkaufen keine Einzelprodukte. So kann das Start-up die Kontrolle über den gesamten Inhalt und alle Prozesse behalten und gewährt ausgewählten Kunden lediglich den Zugriff darauf.

Ein social Start-up, das wir beraten haben, verfolgt diese Strategie. Das Start-up bietet Events an, welche von sehbehinderten Leitern durchgeführt werden. Sie haben zum Ziel, den Workshopteilnehmern zu ermöglichen, die Welt so zu sehen, wie es sehgeschädigte Mitmenschen tun. Das Start-up kontrolliert dabei den Inhalt der Workshops, rekrutiert und bildet die Workshopleiter aus und bestimmt die Veranstaltungsorte. Es kontrolliert somit die gesamte Customer Experience.

Die vierte Strategie ist die Disruption-Strategie.

Wenn man eine Strategie als „klassisch“ beschreiben könnte, wäre es wahrscheinlich diese. Sie gibt dem Start-up vor, eine Marktnische zu suchen, die von derzeitigen Wettbewerbern nur unzureichend gut bedient wird. Infolgedessen entwirft das Start-up durch innovatives F&E ein Produkt, das die Kunden in diesem Segment favorisieren könnten. Durch dieses Manöver sollte das Start-up schnell zum Marktführer in der Nische werden und sehr gute Kundenbindungen schaffen. Bevor die großen, etablierten Wettbewerber das Ganze wahrnehmen, sollte es schon zu spät für sie sein. Von diesem Punkt aus kann das Start-up expandieren und den entwickelten Wettbewerbsvorteil und Ressourcen auf naheliegende Marktsegmente ausweiten.

Die wichtigsten Aufgaben bei der Disruption ist die kontinuierliche Produktanpassung durch Kundenfeedback und die Distribution des Produktes. Schnelligkeit wird der Genauigkeit meist vorgezogen und schnelles Umsatzwachstum sowie Marktanteilssteigerung sind die wichtigsten Erfolgsindikatoren. Disruption schafft zumeist einen neuen Markt, wodurch der Wettbewerb durch andere eintretende Start-ups groß ist. Deshalb ist bei dieser Strategie das Wichtigste, Marktführer in den Segmenten zu werden und dies so lange wie möglich zu bleiben.

 

Die „Generic Strategies“

Die generischen Strategien von Michael E. Porter illustrieren die eigene strategische Positionierung gegenüber dem Wettbewerb. Sie ordnen sich entlang zweier Dimensionen an: dem Wettbewerbsvorteil und dem Wettbewerbsumfang.

Zum einen gewährleisten Start-ups und etablierte Unternehmen einen Wettbewerbsvorteil durch einzigartiges oder besseres Leistungsangebot als der Wettbewerb und zum anderen durch einen geringeren Preis bei vergleichbaren Produkten.

Außerdem wählen Start-ups und etablierte Unternehmen den Wettbewerbsumfang zwischen Massen- und Nischenmarkt.

Aus der erwähnten Anordnung folgen drei Strategien. Sie werden generisch genannt, weil sie allgemeingültig sind und alle Unternehmen sich in ihnen wiederfinden.

Die erste Strategie ist die Differenzierung.

Diese Strategie sagt aus, dass sich ein Start-up durch besseres oder anderes Leistungsangebot differenziert.

Diese Unterscheidung kann durch das Produktangebot geschehen, das beispielsweise besser ist als das des Wettbewerbs oder aber einzigartig im Markt. Die Unterscheidung kann aber auch durch ein besseres Kauferlebnis, durch schnelle Lieferung oder durch außergewöhnliche Zahlungsmodelle erreicht werden – der Differenzierungsfaktor muss dabei ein relevantes Kaufkriterium sein.  Ist dies der Fall, kann ein Preisaufschlag für die gelungene Differenzierung (und zumeist für die höheren Kosten) erzielt werden.

Nehmen wir beispielweise ein Consumer Goods Start-up, das wir beraten haben. Es möchte die Weiterentwicklung von Kindern durch pädagogisch wertvolle Zeit mit den Eltern fördern. Dafür stellt es eine einzigartige Zusammenstellung von Spiel- und Lernmaterialen her, welche effektiv dafür verwendet werden können. Das Start-up differenziert sich vom Wettbewerb, weil es Produkte anbietet, die in dieser Form nicht existent sind. Die Kunden erkennen den Mehrwert und kaufen diese Produkte, da sie von keinem anderen Unternehmen verkauft werden.

Die zweite Strategie ist die Kostenführerschaft.

Sie besagt, dass ein Unternehmen ein gleiches oder vergleichbares Produkt für einen geringeren Verkaufspreis anbietet. Um das tun zu können, muss das Unternehmen geringere Produktionskosten sicherstellen. Das kann durch innovative Prozesse, neue Technologien, Skaleneffekte oder Erfahrungseffizienzen erreicht werden.

Die dritte Strategie ist die Nischenbearbeitung.

Dabei fokussiert sich das Start-up nicht auf den Gesamtmarkt, sondern auf eine ausgewählte Nische. Dort versucht das Start-up, sich entweder vom Wettbewerb gemäß der ersten Strategie zu differenzieren oder gemäß der zweiten Strategie Kostenführerschaft zu erreichen. Gründe dafür, eine bestimme Marktnische zu wählen, können ein geringer Wettbewerb oder einzigartige Kundenbedürfnisse sein. Eine Nische hat durch die geringe Marktgröße oft strukturelle Eintrittsbarrieren für etablierte Unternehmen, die durch die Nische nicht die geforderten finanziellen Ziele erreichen können.  Die starke Fokussierung ist oft ein Vorteil für den Markteintritt und kann als beschleunigende Kraft für künftige Expansion verwendet werden.

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Das Ziel dieses Artikels ist weder die Vollständigkeit aller Strategiemodelle noch deren klare Abgrenzung. Er will vielmehr als Denkanstoß und Basisgrundlage für Strategiediskussionen bei Start-ups dienen. Er stellt sieben verschiedene strategische Ausrichtungen zur Verfügung und soll die Wahrscheinlichkeit erhöhen, die beste – nicht die erstbeste – Strategie zu finden, ohne dabei wertvolle Zeit vor dem Markteintritt zu verlieren.

Wichtiges
zum mitnehmen

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